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Kulturwissenschaftliche Fakultät

Lehrstuhl für Neueste Geschichte – Prof. Dr. Isabel Heinemann

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Kinder osteuropäischer Zwangsarbeiterinnen

Zwischen Arbeitseinsatz und Rassenpolitik: Die Kinder osteuropäischer Zwangsarbeiterinnen und die Praxis der Zwangsabtreibungen im Nationalsozialismus

  • Forschungsprojekt von Prof. Dr. Isabel Heinemann an der Universität Münster, gefördert durch DFG-Sachbeihilfe HE 5858/3-1, 2020-2023, bearbeitet von Marcel Brüntrup

In den letzten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft entstand im Deutschen Reich ein nahezu flächendeckendes Netz spezieller Betreuungseinrichtungen für die Kinder ausländischer Zwangsarbeiterinnen. In diesen improvisierten, im nationalsozialistischen Behördenjargon euphemistisch als „Ausländerkinder-Pflegestätten“ bezeichneten Heimen verloren bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs zehntausende Säuglinge und Kleinkinder aufgrund unzureichender Versorgung, Hygiene und Pflege ihr Leben – das gewollte Ergebnis einer menschenfeindlichen Politik, welche zum Einen auf die restlose Ausbeutung der ausländischen Arbeiterinnen im Dienste der deutschen Kriegswirtschaft, zum Anderen auf die gewaltsame rassische Homogenisierung des deutschen Volkes abzielte. Ein weiteres Mittel zur Verhinderung des aus kriegswirtschaftlichen wie rassistischen Gründen unerwünschten Nachwuchses waren die ab 1943 an Polinnen und „Ostarbeiterinnen“ vorgenommenen (Zwangs)Abtreibungen. Über die Genehmigung derartiger Eingriffe, wie auch über eine etwaige „Eindeutschung“ vermeintlich „gutrassiger“ Zwangsarbeiterkinder, entschieden Himmlers Rassenexperten aus dem Rasse- und Siedlungshauptamt der SS im Laufe eines festgelegten Überprüfungsverfahrens, welches noch bis in die letzten Kriegstage Anwendung fand.

Die Behandlung schwangerer ausländischer Arbeiterinnen, ausländischer Mütter und ihrer im Deutschen Reich geborenen Kinder verweist somit auf einen neuralgischen Punkt zwischen nationalsozialistischer Rassenideologie und dem Einsatz ausländischer Arbeitskräfte in der deutschen Kriegswirtschaft, der bislang lediglich in diversen Regionalstudien über einzelne „Pflegestätten“ Beachtung fand. Anknüpfend an dieses Forschungsdesiderat verfolgt die vorliegende Studie das Ziel, eine Gesamtgeschichte der „Ausländerkinder-Pflegestätten“ und der damit zusammenhängenden Maßnahmen im Deutschen Reich mit besonderem Fokus auf die normativ-rechtliche Genese sowie die regionale und lokale Umsetzung dieser rassistischen Praxis zu schreiben. Im Fokus stehen dabei zunächst die Entscheidungs- und Aushandlungsprozesse zwischen ökonomischen Interessen und tatsächlichen oder vermeintlichen kriegswirtschaftlichen Sachzwängen auf der einen sowie rassenideologischen und volkstumspolitischen Zielsetzungen auf der anderen Seite. Wie entwickelte sich der Umgang mit schwangeren Zwangsarbeiterinnen und ihren Kindern zwischen Rassenideologie und Kriegswirtschaft und welchen Einfluss hatte der Kriegsverlauf auf diesen Vorgang? Welche Planungen, Politiken, Konflikte und Erfahrungen lagen den Entscheidungen zur Einrichtung von „Ausländerkinder-Pflegestätten“, zur Durchführung von (Zwangs)Abtrei­bungen bei Polinnen und „Ostarbeiterinnen“ und der rassischen Selektion ihrer Kinder zugrunde? Weiterführend wird nach dem Verhältnis zwischen zentralen Planungen und lokalen Praktiken gefragt, wobei die verschiedenen nationalen und regionalen Akteursebenen in den Blick geraten. Inwiefern waren die rassistischen Maßnahmen von oben vorgegeben und welche Rolle spielten Kritik, Anregungen und Initiativen aus der lokalen Praxis des Arbeitseinsatzes? Ein exemplarischer Einblick in die subjektiven Lebenswirklichkeit(en) der Zwangsarbeiterinnen aus Polen und der Sowjetunion in Bezug auf Schwangerschaft, Geburt und Abtreibung soll die konkreten Auswirkungen der oben erläuterten Maßnahmen veranschaulichen und es ermöglichen, nach den Handlungsspielräumen und Resilienzstrategien der betroffenen Frauen zu fragen. Konnten sie sich gegen unerwünscht Abtreibungen und die Wegnahme ihrer Kinder wehren? Welche Möglichkeiten standen ihnen offen, sich und ihre Familie vor dem Zugriff des Regimes zu schützen und ihren Kindern das Überleben zu sichern? Fallbeispiele einzelner „Ausländerkinder-Pflegestätten“ sollen schließlich einen plastischen Eindruck von der Einrichtung und dem Betrieb derartiger Heime sowie der Rolle lokaler Akteur:innen liefern.

Mit einer Gesamtgeschichte der „Ausländerkinder-Pflegestätten“ ist der Anspruch verbunden, auf Grundlage einer breiten Quellenbasis und unter Bündelung der Ergebnisse zahlreicher bisher erschienener Regionalstudien einen umfassenden Überblick über diesen Themenkomplex sowie die damit verknüpften Problemfelder zu liefern und deren Entwicklungslinien dezidiert herauszustellen. Dabei verspricht die historische Analyse der „Ausländerkinder-Pflegestätten“ sowie der dazugehörigen Praktiken der (Zwangs)Abtreibungen und der rassischen Selektion ausländischer Kinder neue Erkenntnisse über das Verhältnis und die Verschränkungen zwischen der nationalsozialistischen Rassen- und Bevölkerungspolitik sowie dem kriegswirtschaftlichen Arbeitseinsatz ausländischer Zwangsarbeiterinnen. Darüber hinaus eröffnet sie den Blick für die komplexen Interessenlagen und Funktionen diverser Institutionen und Akteur:innen auf verschiedenen Herrschafts- und Verwaltungsebenen des NS-Regimes bei der Planung und praktischen Umsetzung dieser ausbeuterischen und rassistischen Praktiken – von den Ministerien in Berlin bis hin zu lokalen Funktionsträger:innen. Damit nimmt die vorliegende Studie konkrete Institutionen, Orte, Opfer und Täter:innen in den Blick, die bislang nicht im Fokus umfassender Forschungen standen und leistet zudem einen wichtigen Forschungsbeitrag zur Kontrolle von Reproduktions­entscheidungen sowie zur Agency intersektional diskriminierter Frauen im Nationalsozialismus.


Verantwortlich für die Redaktion: Lukas Alex

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